Karriere

Thomas Belker: "Der Algorithmus kann 42 Dimensionen einer Persönlichkeit messen"

Thomas Belker, Vorstandssprecher der Talanx Service AG, spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über Precire – die Software, die in zehn Minuten die Persönlichkeit eines Bewerbers durchanalysiert.

Herr Belker, Sie nutzen bei Talanx neuerdings eine Software, die Ihnen die Persönlichkeit eines Bewerbers nach nur einem Telefonat verrät. Haben Sie sich zu oft mit Ihrer Menschenkenntnis geirrt?
Klar, gerade in Bewerbungsinterview lassen wir uns von vielen Dingen beeinflussen – Sympathie, Aussehen, Stimme – da ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daneben zu liegen. Ich hatte zum Beispiel mal eine Mitarbeiterin, die nach einigen Monaten plötzlich wichtige Aufgaben nicht mehr gemacht hat, Termine verstreichen lassen hat. Sie war dem Arbeitsalltag nicht gewachsen, konnte sich aber gut verkaufen. Mit Precire hätten wir das vielleicht vorher geahnt. Trotzdem: Der Precire- Test ist nur ein ergänzendes Instrument – und in den Top-Ebenen haben wir auch zuvor schon psychologische Eignungstests angewandt.
Das Programm Precire analysiert, wie ich spreche – leise, schnell, mit Pausen oder ohne. Das soll tatsächlich zeigen, wie mein innerstes Wesen ist?
Als ein Kollege vor gut einem halben Jahr von Precire erzählte, dachte ich auch erst: Das klingt cool, aber kann doch gar nicht wahr sein. Also testeten ich und drei weitere Vorstände, die in ihrer Karriere schon etliche Assessment-Center durchlaufen haben, das Programm aus. Mit dem Ergebnis: Wir fanden uns mit einer kleinen Ausnahme bei den Ergebnissen komplett wieder. Das war erstaunlich. Und faszinierte uns.

Was denn für eine Ausnahme?
Ein Teilnehmer sah das Ergebnis beim Kriterium „Einfluss“ nicht so hoch ausgeprägt wie es seinem Eigenbild entsprach. Er würde sehr wohl „einflussreich“ sein, meinte er. Da haben wir gesagt: Frag mal dein Team, deine Familie. Die direkte Antwort von Kindern kann heilsam sein. Nur weil man sich selbst zum Beispiel für einen sehr durchsetzungsstarken Menschen hält, heißt das nicht, dass man das auch ist oder auf andere so wirkt.

Wie viele Bewerber haben den Test schon gemacht?
Rund 150. Wir nutzen die Software, um Bewerber für den Vorstand und die beiden Führungsebenen darunter auszuwählen, und wir nutzen es im Top-Management für die Weiterentwicklung der Mitarbeiter. Sieht jemand bei sich Ergebnisse, die ihm missfallen, an denen er arbeiten möchte, bieten wir Coachings an.

Hat sich schon jemand geweigert, den Test zu machen?
Der Test ist immer freiwillig. Wir sagen, wir wünschen ihn uns, aber ein Nein bedeutet nicht das Ende des Bewerbungsprozesses. Von den bisherigen Bewerbern – ich rede hier von leitenden, erfahrenen Angestellten – hat ihn aber jeder gemacht. Sie kennen es, sich bei einem Bewerbungsverfahren selbst einzuschätzen oder eingeschätzt zu werden. Die Teilnehmer können aber auch jederzeit abbrechen und erst, wenn derjenige sein Ergebnis gesehen und ein telefonisches, anderthalbstündiges Feedback von einem Experten von Precire dazu bekommen hat, kann er entscheiden, ob er es an uns weiterleitet oder nicht.

Der Teilnehmer soll dem Computer zum Beispiel von einem ganz besonderen Sonntag erzählen.
Was derjenige sagt, ist für den Test nicht wichtig, sondern nur, welche Wörter er zum Beispiel nutzt, wie schnell, wie hoch er spricht, wie er Sätze betont. Erstmal kann sich der Teilnehmer aussuchen, ob er mit der Computerstimme über etwas Berufliches oder Privates sprechen will, also über ein bestimmtes Projekt oder eben über einen bestimmten Tag, einen schönen Urlaub. Es geht darum, dass er ganz normal zehn, 15 Minuten lang redet. Nach acht Wochen wird das Gespräch gelöscht.

Dann beschreiben Sie doch mal die Persönlichkeit, die Sie sich wünschen.
Der Precire-Algorithmus kann 42 Dimensionen einer Persönlichkeit messen. Wir schauen uns vier an: Resilienz, also die psychische Widerstandskraft, Optimismus, Neugierde, Einfluss. Eine Führungskraft sollte bei uns Einfluss auf Entscheidungen nehmen wollen und die Dinge nicht einfach so laufen lassen. Ist er nicht so neugierig, wird es schwierig, weil sich unser Unternehmen durch die Digitalisierung enorm verändert. Die Welt ist sehr, sehr kompliziert geworden. Mitarbeiter machen sich viele Gedanken, wie sieht es in zwei Jahren, wie in fünf Jahren aus – wir wissen es aber nicht. Deswegen ist es gut, wenn eine Führungskraft in seinem Team Optimismus versprüht.

Spricht jemand leise und negativ, dann ist er also sofort raus?
Das Ergebnis des Tests zählt, aber nicht nur. Mit seinem Lebenslauf hat uns der Bewerber ja davor schon angesprochen und es geht auch nicht darum, perfekt zu sein. Niemand ist perfekt. Das Gesamtbild muss stimmen. Bei drei Kandidaten sehe ich mir aber natürlich an, ob einer sehr stark unsere Kriterien erfüllt oder gar nicht. Letztlich entscheidet der Mensch. Nicht die Analyse.

Was kostet Sie der Test?
Ich möchte keinen Preis nennen, aber es ist günstiger als etablierte psychologische Testverfahren. Kleinere Unternehmen, Mittelständler, könnten sich das Programm durchaus leisten. Wir erwarten außerdem, dass wir dadurch weniger Menschen einstellen, die nicht passen und den Konzern wieder verlassen. Eine falsche Einstellung – die ist richtig teuer.

Sie haben den Test auch gemacht.
Ja, ich habe mein Sprachverhalten danach deutlich geändert.

Was hat Sie denn so erschreckt?
Nicht erschreckt. Sensibel gemacht. Mir wurde gezeigt: Ich bin von Natur aus skeptisch, fast überanalytisch. Es hat auch ehrlicherweise ein halbes Jahr gebraucht, bis ich von Precire völlig überzeugt war. Ich habe zuvor oft „ja, aber“ gesagt, was zögerlich wirkt. Nach dem Motto: Ja, tolle Idee, aber danke, erstmal nicht. Das vermeiden wir mittlerweile in meinem ganzen Team. Ich habe mir auch angewöhnt, verbindlicher zu sein. Um teamorientiert zu klingen, sprach ich oft von „wir“. Manchmal muss ich aber klarmachen, wofür „ich“ stehe, was „ich“ will.

Mit dem ganzen Wissen: Analysieren Sie jetzt pausenlos Ihr Gegenüber?
Auf jeden Fall. Ich höre mehr „ich“ und „wir“, bemerke, ob eine Führungskraft ewig lange Monologe hält oder auch mal zuhört und seinem Team Fragen stellt. Der dominante Dauerredner stört Teams und ist heute nicht mehr gewollt. Und ich achte auf die Wortwahl. Früher haben Chefs oft Begriffe aus dem Krieg gebraucht: angreifen, kämpfen, an vorderster Front sein. Eine sehr männliche, autoritäre Sprache, die bei anderen aber unterbewusst negative Gefühle auslöst. Ich versuche eher positiv besetzte Wörter zu nutzen, ohne in der Wohlfühloase zu landen. Wir sind immer noch bei der Arbeit.

Entwickelt sich so nicht aber eine furchtbar künstlich antrainierte Sprache?
Wenn der Chef ganz groß von seinen Plänen erzählt, alle rhetorisch begeistert, aber das Gesagte überhaupt nicht umsetzt, fällt das auf. Menschen merken durchaus, ob jemand authentisch ist oder nur schön daherredet.