Konzernthemen

„Die Geschäftsmodelle unserer Kunden ändern sich dramatisch – und wir müssen reagieren“

Die Industrie 4.0 verändert nicht nur die Produktion von Autos, Schuhen oder Roboteranlagen, sondern auch die Industrieversicherung. HDI-Vorstand Stefan Sigulla beschreibt, wie neue Daten für eine bessere Versicherbarkeit sorgen, warum sich die Policen wandeln und was die Versicherer selbst noch verbessern können.

Stefan Sigulla schaut sich alles immer ganz genau an: Der Vorstand beim Industrieversicherer HDI Global stand bereits mit seinen Füßen auf der geschwungenen Glasdecke, die auf vier grazilen Pfeilern die Atriumhalle der Firmenzentrale in Hannover überspannt. Seine Neugier kommt nicht von ungefähr: Wer die Risiken beim Bau von Ölplattformen, Raffinerien oder Kraftwerken analysiert, der will auch im eigenen Haus alle Details kennen. Der Dachbau ist längst abgeschlossen, die Baustelle, die Sigulla zurzeit am meisten beschäftigt, ist die rasche Veränderung der Industrieversicherung: wachsende Datenmengen und wandelnde Kundenansprüche sorgen dafür, dass Versicherer neue Risiken abdecken und bei Schäden schneller reagieren müssen. Doch trotz Digitalisierung: Den Online-Abschluss einer Industrieversicherung kann sich Sigulla noch nicht vorstellen.

Herr Sigulla, dank der digitalen Vernetzung stehen heute viel mehr Daten zur Verfügung als früher. Wie verändert das die Berechnung des Risikos in der Industrieversicherung?
Stefan Sigulla
: Es lässt sich genauer ermitteln, denn die Daten sorgen für mehr Sicherheit in der Kalkulation. Die zu erwartenden Schäden lassen sich zuverlässiger bestimmen, deshalb fallen die Sicherheitsmargen für etwaige Fehleinschätzungen geringer aus. So profitiert der Kunde von risikogerechteren Preisen.

Welche Daten fließen denn in die Kalkulation ein, die es vor zehn Jahren noch nicht gab?
Wir wissen heute genau, wo die einzelnen Betriebsstätten liegen. Wir können mit GPS-Daten und Modellen genau errechnen, welche Auswirkungen bestimmte Ereignisse für die jeweiligen Betriebsteile hätten. Neue Daten helfen uns aber auch in anderen Bereichen.

Zum Beispiel?
Nehmen wir einen Hurrikan, der große Landesteile überschwemmt hat. Sie können heute sehen, wo das Wasser steht, ohne vor Ort sein zu müssen. Sie können Satellitenbilder analysieren oder über großflächige Gebiete eine Drohne schicken. Die Regulierung der Schäden geht mit besseren Daten sehr viel schneller und genauer. Sie können auch besser reagieren, um Schäden zu vermeiden, wenn zum Beispiel die Informationen aus den Lieferketten genutzt werden. Wenn Sie wissen, welche Waren sich auf welchen Schiffen befinden können sie diese im Ernstfall umdirigieren. Und Sie können nicht zuletzt auch die Folgen eines Produktionsstopps eines Zulieferbetriebes viel besser abschätzen. Ist davon ein Produkt betroffen, das andere Unternehmen zur Herstellung eigener Produkte brauchen? Wenn ein Türschloss nicht geliefert wird, stehen anderswo auf der Welt möglicherweise Produktionsbänder still.

Und die Unternehmen teilen ihre Daten so ohne weiteres mit dem Versicherer?
Sie stellen dann Daten zur Verfügung, wenn sie sich sicher sind, dass damit angemessen umgegangen wird. Und wenn wir ihnen vermitteln, welchen Vorteil sie daraus haben. Ich merke nicht, dass da gemauert wird. Das ist ein Miteinander. Wir brauchen aber vor allem eine noch stärkere Vernetzung zu öffentlich zugänglichen Informationen.


Trotz der vielen Daten: Das Industrieversicherungsgeschäft ist besonders an der Kundenschnittstelle häufig noch analog. Sehen Sie da Nachholbedarf?
Ein Zustelldienst kann Ihnen heute genau sagen, wo und wann die Waren umgeladen werden und wo Sie ihr Paket abholen können. Da müssen wir auch hinkommen. Wir müssen weg vom Papier hin zu elektronischen Akten. Wir müssen in unseren internen Abläufen schneller und transparenter werden – auch in der Kommunikation. Wir bei HDI werden unseren Kunden schon bald einen besseren Überblick bieten können über die Höhe und den Bearbeitungsstand jeder Police, jedes Geldflusses und jedes ihrer Schäden weltweit. Es gibt Unternehmen, die in 180 Ländern vertreten sind. Die wollen das wissen.

Es gab mit Ausschreibungsplattformen Versuche, auch den Abschluss von Industrieversicherungen zu digitalisieren, letztlich ohne großen Erfolg. Wieso klappt das nicht?
Wenn Sie eine Plattform als echte Ausschreibung begreifen, müssen Sie alle Anforderungen an die Versicherung dort abbilden können. Plattformen reduzieren eine Versicherung aber oft zu sehr auf den Preis. Sie können Bleistifte über Plattformen einkaufen, komplexe Dienstleistungen nicht. Gerade in der Industrieversicherung spielen andere Dinge eine Rolle: Welches Rating hat der Versicherer? Soll er Schäden mit eigenen Leuten regulieren? Wie erfolgt die Datenweitergabe? Das Risikomanagement? Wie wird das internationale Programm installiert? Eine Plattform, die versucht, das alles aufzuschlüsseln, macht am Ende mehr Arbeit als eine klassische Entwicklung. Digitalisierung ist kein Selbstzweck und man muss sich auch hier sehr genau nach Kosten und Nutzen fragen.

An ein Online-Vergleichsportal für Industrieversicherungen glauben Sie also nicht?
Das Feintuning für die Versicherung schaffen Sie nur in persönlichen Verhandlungen. Und dieses Feintuning schafft letztendlich den Mehrwert und das Vertrauen. Ich kann mir deshalb heute einen rein digitalen Abschluss nicht vorstellen. Ausschließen will ich aber nichts. Eine App für den Zahlungsverkehr hätte ich mir auch nicht vorstellen können – und jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie es ohne geht.

Vielleicht müssten die Produkte nur einfacher werden, damit sie sich digital besser vertreiben lassen?
Es wird sicherlich noch zu einer Standardisierung kommen, vielleicht auch mehr Versicherungsmodule geben, die sich leichter vergleichen lassen. Trotzdem müssen Sie ein Unternehmen, das Konsumgüter herstellt, anders versichern als ein Unternehmen, das Häfen oder Raffinerien errichtet. Das würde man mit einer einfachen Deckung nicht hinbekommen, dafür braucht es maßgeschneiderte Versicherungslösungen. Im Schadenfall will ja kein Kunde hören, dass seine Deckung leider eine kleine Lücke aufweist.

Merken Sie eigentlich, dass sich durch die Digitalisierung auch der Versicherungsbedarf der Kunden verändert?
Ganz eindeutig. Die Geschäftsmodelle unserer Kunden ändern sich dramatisch, und darauf müssen wir reagieren. Früher haben zum Beispiel Maschinenbauer Software nur gelegentlich eingesetzt. Mittlerweile ist aus dem Maschinenbauer ein Softwarelieferant geworden, der auch noch einen Roboterarm baut. Wenn die Software nicht funktioniert, dann hat der Kunde einen Betriebsausfall – ohne dass zuvor ein Sachschaden eingetreten ist. Die Konsequenzen können dramatisch sein. Darauf haben wir reagiert und die Policen um diese Software-Abdeckung ergänzt.

Beinhaltet diese auch den Schutz vor Cyberrisiken?
Cyberrisiken würde ich immer getrennt betrachten. Ich glaube, das Risiko eines Cyberangriffs ist so groß, dass es einer isolierten Police bedarf – zumindest in der Industrieversicherung. Da muss man zunächst über Assistenzdienstleistungen dem Unternehmen sofort helfen. Da geht es zuallererst gar nicht um den möglichen Schaden: Denn der wird stündlich größer, wenn Sie keine richtige Unterstützung beim Krisenhandling bieten oder niemanden haben, der weiß, mit welcher Forensik er eingreifen muss.

Wie läuft so etwas in der Praxis ab?
Wir hatten zum Beispiel ein Unternehmen mit Betriebsstätten in mehreren Ländern. Da hat ein Virus eine Industrieanlage bedroht. Wir haben sofort Spezialisten geschickt. Ihnen ist es übers Wochenende gelungen, den Virus zu isolieren, so dass am Montag die Produktion quasi unbeschadet weiterlaufen konnte. Ein Riesenerfolg, der zeigt: Die Assistance-Leistungen sind bei der Cyberversicherung das Entscheidende.

Holen Sie sich mit der Versicherung von Cyberrisiken nicht ein großes Kumulrisiko in die Bücher?
Wir müssen sicherlich ganz neue Kumulszenarien beachten. Ein Cyber-Angriff könnte schließlich mehrere Unternehmen gleichzeitig treffen – ähnlich einem Erdbeben, das in einer Region mehrere Fabriken beschädigt. Wir setzen deshalb auch Technik ein, um zu prüfen, welche Lieferketten miteinander verwoben sind.

Der HDI ist als Gegenseitigkeitsverein der großen Industrieunternehmen gegründet worden. Heute könnte man das Peer-to-peer Insurance nennen. Sehen Sie eine Gefahr, dass sich wieder Industrieunternehmen zusammenschließen und mithilfe von Technik eine Versicherung ohne Versicherer gründen?
In meinem ersten Leben als Industriemanager hat es mal eine solche Initiative gegeben. Da wollten Unternehmen ihre Risiken zusammenbringen. Das ist aber schon an Grundsatzüberlegungen gescheitert, weil die Unternehmen unterschiedliche Ansichten über das Risikomanagement hatten. Wenn einer viel Vorsorge betreibt, zahlt er den Schaden für den, der weniger Vorsorge trifft. Es ist schwer, seinem Aktionär beizubringen, dass in diesem Jahr der Gewinn ausbleibt, weil es bei einem anderen gebrannt hat. Sie müssten das über eine große Anzahl von Unternehmen anonymisieren. Stattdessen nutzen die Firmen lieber den Industrieversicherer – und konzentrieren sich auf ihr Kerngeschäft. Im Grunde gibt es nichts Besseres.

Dieser Text wurde zuerst auf www.gdv.de veröffentlicht. Veröffentlichung auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung des GDV.